Suchanfrage, Suchintention, Algorithmen und die Illusion von Auswahl
Suchanfragen und die algorithmischen Rechenoperationen hinter ihnen: Was liest Google RankBrain wirklich aus einer Suchanfrage heraus? Was interpretieren Unternehmen per Algorithmus in die Suchanfrage hinein? Was leiten sie aus ihr ab? Onlinemarketing-Agenturen suchen nach Rankingfaktoren. Firmen suchen nach Geschäftsmöglichkeiten. Und zwischen allen Daten und Analysen, fast schon am Rande oder wie nebenbei: die Nutzer. Nutzer suchen Problemlösungen und das beste Produkt zum günstigsten Preis. Nutzer suchen natürlich ihren Vorteil. Aber bekommen sie ihn überhaupt? Die technischen Möglichkeiten zur Analyse und Interpretation von Suchanfragen wachsen immer weiter. Mit immer schnellerer Technik wachsen im Onlinemarketing (nicht nur über die Suchmaschine Google) auch die Optionen für Klassifizierungen und Filterungen, für Manipulationen – für das Erzeugen einer wachsenden Illusion von der Auswahl, vom Vergleich und vom günstigen Angebot in einem vermeintlich freien Online-Markt.
Interview mit Prof. Dr. Johannes Caspar, Hamburgischer Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit
Algorithmen mischen sich überall unbemerkt ein
search-intent.de: Eine App für den Blutdruck, eine für die billigste Tankstelle und überall Kaufempfehlungen beim Online-Shopping. Eigentlich ist alles komfortabel durchgetaktet. Aber übersehen wir da nicht vieles?
Sollten wir uns wirklich auf die Algorithmen verlassen?
Prof. Dr. Caspar: Es ist eine zunehmende Tendenz festzustellen, uns in die Hände von Algorithmen und ihrer Ergebnisse zu begeben. Dies mag in einigen technisch geprägten Feldern unverzichtbar sein, weil die Komplexität der Technik selbst nur wieder über Technik beherrschbar wird.
Dort, wo sich Algorithmen in unser soziales Umfeld einmischen, beginnend, aber längst nicht endend beim Konsum, ist größere Skepsis angeraten. Richtigerweise formuliert das Datenschutzrecht Grenzen für automatisierte Entscheidungen und Profiling des Einzelnen. Dieses Thema wird in den kommenden Jahren in der Datenschutzdebatte eine wichtige Rolle spielen.
Die Illusion der Auswahl
search-intent.de: Auf der Seite 1 in den Suchmaschinenergebnisseiten (SERP) ist nur noch wenig Platz – und er nimmt immer weiter ab.
Sind sich die Verbraucher aus Ihrer Sicht überhaupt bewusst, dass sie nur einen Bruchteil eines großen Marktes zu sehen bekommen?
Prof. Dr. Caspar: Dieses Bewusstsein ist häufig nicht sehr ausgeprägt. Viele Suchmaschinennutzer sind sicherlich auch davon überzeugt, dass die Auswahl und Priorisierung der Suchmaschinen objektiven und nachvollziehbaren Kriterien folgt und auch ihnen das beste Ergebnis liefert. Dass hier immer auch starke kommerzielle Interessen im Spiel sind, wird schnell übersehen. Die Filterblase, in der sich Menschen befinden, die profilbasierte Dienste nutzen, ist jedoch real und eine Bedrohung der lebenswichtigen Pluralität und Meinungsvielfalt.
Eine neue Planwirtschaft
search-intent.de: Das leitet zur nächsten Frage über: Angebot und Nachfrage sollten sich nach der Theorie sozialer Marktwirtschaft von selbst regeln – fair und möglichst ohne Eingriffe des Staates. Algorithmen nehmen aber wesentlichen Einfluss auf die Online-Märkte.
Brauchen wir neue Gesetze – oder müssen bestehende Gesetze wegfallen?
Prof. Dr. Caspar: Der vermehrte Einsatz von Algorithmen kann in der Tat zu einer neuen Art von Planwirtschaft führen. Mit ihrer Scheinobjektivität machen sie jedes Zuwiderhandeln gegen ihre Empfehlungen begründungsbedürftig und für den Entscheider hochriskant. Wer die Algorithmen und die dahinterstehende Technologie kontrolliert, kann diese Prozesse im eigenen Sinn steuern und immer stärkere Marktmacht aufhäufen. Gegen solche Entwicklungen sind Regulierungsinstrumente vorhanden, und die Marktkontrollbehörden haben den Datenmarkt bereits im Visier.
Wie weit geht Nutzerführung – wo beginnt der Graubereich?
search-intent.de: Suchintention (Wann kommt der Bus?) und Nutzerintention (Ich möchte mit dem Bus zum Hafen fahren und von dort nach Übersee auswandern) werden irrtümlich oft gleichgesetzt. Aus einer Frage, die jemand eingibt, werden Daten produziert, die gleich eine Lebensabsicht unterstellen.
Was sagt der Datenschützer zur Uminterpretation einfacher Suchanfragen bzw. zur fehlenden Rückfrage durch die Suchmaschinen?
Prof. Dr. Caspar: Viele Nutzer sind bequem und dankbar, wenn Geräte bzw. die hinter ihnen stehenden Dienste ihnen das Leben erleichtern. Sei es durch vorausschauende Planungen oder durch die geduldige Annahme und beflissentliche Umsetzung von zunehmend gesprochenen Anweisungen. Solange dies innerhalb der Situation des Nutzers bleibt, ist auch aus Datenschutzsicht nichts dagegen einzuwenden.
Aber die Unternehmen leiten für ihre eigenen Zwecke noch viel mehr daraus ab, was sich für kommerzielle Zwecke verwenden lässt. Dies ist in dem von den Unternehmen gewünschten und praktizierten Umfang mit dem geltenden Datenschutzrecht häufig nicht vereinbar. Die Fixierung auf die Algorithmen führt zu einer Uminterpretation der Lebenswirklichkeit. Die Deutungshoheit wird damit in die Hände der Maschinenlogik globaler Plattformen gelegt. Die Realität wird dadurch verzerrt und zu dem, was die Algorithmen für real halten.
Wenn der gute (oder schlechte) Ruf irgendwo auf einem Server liegt
search-intent.de: Nutzerintention „Gesundheit erhalten“: In früheren Zeiten hat sich ein Arzt durch seine Arbeit einen Ruf aufgebaut. Heute kann dieser Ruf mit wenigen Klicks beschädigt oder vernichtet werden. Jeder kann Dr. Mustermann in Musterstadt eine verheerende Kritik in das Profil auf einer Arztbewertungsseite schreiben – auch wenn er nie als Patient bei Dr. Mustermann war. Und immer bleibt etwas hängen. Datenschutz ist keine Einbahnstraße.
Welche Wege sehen Sie, online einsehbare Daten (z. B. Bewertungen), die auch als Entscheidungsgrundlagen gelten, vor Missbrauch zu schützen?
Prof. Dr. Caspar: Die rechtlichen Fragen von Bewertungsportalen sind durch eine Reihe von höchstgerichtlichen Entscheidungen vergleichsweise umfassend behandelt. Bestehende Gesetze schützen vor Missbräuchen sowohl von Seite der Bewertenden wie auch der Bewerteten und eröffnen ihnen rechtliche Schutzmöglichkeiten. Die Abwägung zwischen öffentlichem Informationsinteresse und dem Schutz der Privatsphäre ist ein zentrales Thema, das transparente Verfahren erfordert.
„Problematisch wird es dort, wo die vermutete bzw. errechnete Intention stärkeres Gewicht bekommt als die tatsächliche“
search-intent.de: Bislang wird hemmungslos hochgerechnet und gegengewichtet. Conversion-Pixel melden es an den Server, wenn ich mir online ein Buch ansehe. Und so sehe ich auf überall plötzlich Bücher über Australien. Über das Tracking ziehen mich auch Marketingleiter anderer Bereiche in eine Customer Journey aufs Datenmeer – unterstellen mir vielleicht, dass ich auswandern möchte.
Nehmen wir das Wahlgeheimnis bei politischen Wahlen und fragen: Ist die eigene Intention überhaupt schutzfähig?
Prof. Dr. Caspar: Problematisch wird es dort, wo die vermutete bzw. errechnete Intention stärkeres Gewicht bekommt als die tatsächliche. Solange sich dies nur auf unser Kaufverhalten bezieht, mag man es als kuriose oder schlimmstenfalls nervige Beeinflussung verbuchen. Wo es sich aber auf unser weiteres Sozialverhalten bezieht, auf die Wahrscheinlichkeit, etwa straffällig zu werden, wird es aus gesamtgesellschaftlicher Sicht gefährlich. Menschen verlieren ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung dann auf eine dramatische Weise. Ethische und soziologische Debatten und die Bereitschaft, den technischen Möglichkeiten nicht kritiklos zu folgen, sind hier dringend erforderlich.
Die Manipulation von politischen Wahlen durch Online-Plattformen und den Einsatz von Social Bots, Dark Ads und Fake News ist ein Angriff auf das plurale Modell der politischen Willensbildung. Hier lauern Gefahren für unser demokratisches Gemeinwesen, was leider hierzulande bislang viel zu wenig beachtet wird.
search-intent.de: Vielen Dank für dieses Interview.